Samstag, 27. März 2010

Drehbuch (Arbeitsfassung 2010)


Spuren des Lichts


Drehbuch

von

Thorsten Wiesmann










Mein Dank gilt ganz besonders meinem Freund Misha Ratgaus, ohne dessen Mitarbeit dieses Drehbuch niemals seine ersten Formen angenommen hätte.






















"Spuren sind nicht nur etwas, das vom Verschwundenen übrig bleibt, sondern sie können ebenso einen Entwurf markieren, etwas, das erst eintreten wird.(...)

Noch bevor er die Augen öffnete, um etwas zu erkennen, trug ihn die Flut des Sichtbaren auf die Gegenwart zu, näher und näher!"

John Berger










Erste Szene Tag Innen-Aussen

IN EINEM MUSEUM UND IN EINEM PARK

Melanie und Karl, zwei Menschen um die 30. Sie kennen sich schon seit vielen Jahren. Ab und an treffen sie sich und tauschen dann ihre neuen Erfahrungen miteinander aus. Man könnte sagen als Paar leben sie eine Art experimentelle Liebesbeziehung.

EIN AUSSTELLUNGSRAUM, VERWANDELT IN EIN LABYRINTH AUS RÄUMEN. DIE TRENNWÄNDE MIT SACKLEINEN VERKLEIDET UND MIT LAUB DEKORIERT, UNTERSCHIEDLICH HELL ERLEUCHTET. DIE HALLE IST MIT EINER KUPPEL AUS STOFFBAHNEN BEKRÖNT.

Melanie : Sagte ich dir doch: Dies ist keine Nachbildung der Halle des Aberglaubens.

Karl : Wie viele Altäre hast du denn gezählt?

Melanie : Nicht mitgezählt. Damals haben sie übrigends ein Emblem übernommen. Den Kiefernbaum aus der alten Revolutionsflagge. Sie hatten die Idee eines Morgens im Bett. Es war überall, dieses Emblem: Auf dem Briefpapier, den Katalogen, Plakaten. Außerdem haben sie Buttons eingesetzt. Sie hatten Tausende davon und haben sie an jedermann verteilt. An Penner und Prediger. (Sie zeigt auf das Buch in seiner Hand.) Hier, in diesem Artikel steht der Jongleur befände sich unter dem Sternzeichen der Waage.

Karl: Und ich dachte immer, die Herausgeber wären alle der Meinung solche Themen könnte man der Öffentlichkeit noch nicht zumuten... (Zeigt auf einen Kunstgegenstand mit einer kleinen Aufschrift) Was soll denn diese Aufschrift hier bedeuten: Der junge Geist stirbt gegenüber allem?

Melanie: Dieses Stück stammt aus dem Jahre 1913, es war das der Wasserscheide in der Selbstentdeckung des Jahrhunderts, der Moment, als die steigende Flut von Experiment und Innovation in allen Künsten die Barrieren zwischen einer Kunst und den anderen unterspülte. Das neue Jahrhundert begann sich selbst zu entdecken. Andererseits wurde 1913, als Gegenkraft gewissermaßen, durch Korrumpierung von Präsident Wilson, das weltweite Geldsystem an eine private Banker-Elite abgegeben, an die FED, die keine Notenbank ist, so wie es immer dargestellt wird, sondern ein Gesetz mit dem es möglich ist durch Eigentum von Privatleuten, zu deren Vorteil, künstlich Inflationen zu erzeugen. Dies war ein weiterer Schritt bei der ungerechten Umverteilung von Arm nach Reich, dessen schreckliche Auswirkungen, etwa unnötiges Massensterben, vielen erst jetzt bewusst werden. Komm lass uns herausgehen...

Melanie und Karl gehen aus dem Gebäude des Museums und weiter in einen Park hinein. Sie kommen an einem kleinen Gebäude vorbei, an dessen Mauer ein Mädchen und ein Junge gemeinsam ein Graffiti malen, in dessen Zentrum ein Gesicht mit weit geöffneten Augen entsteht. Im Schatten der ersten höheren Bäume hören wir sie ihr Gespräch fortsetzen, das Graffiti wird im Hintergrund während dessen weitergemalt.

Karl: Die Zinsen eines Kapitals waren doch schon immer eine Art beständige Steuer, welche die Geld besitzenden Personen von der Produktion der Arbeiter erhoben. Die Bestebebungen den Zins abzuschaffen sind bislang ohne Erfolg geblieben, obwohl es die Bestrebung von Gesetzgebern und Propheten von den ältesten Zeiten an war.

Während Melanie jetzt antwortet sind die beiden Graffiti-Maler gerade dabei ihr Gesicht zu übermalen und an dessen Stelle ein anderes zu zeichnen.

Melanie : Hat die Geschichte, die dir die Gesellschaft um dich herum über dich als Menschen erzählt, überhaupt noch was mit dir zu tun? Hast du dich das einmal gefragt?

Karl : Geht es dir auch so, dass du dich gerade an deine Lieblingsgeschichten aus der Kindheit am wenigsten erinnerst?

Melanie : Erfinden wir sie uns doch neu. Karl, halt mal an. Das ist er. Das ist der Schlüssel zu dir.

Karl : Vielleicht gibt es zu Menschen überhaupt keine Schlüssel. Nun gut, versuch es einmal damit. Dreh ihn herum, deinen Schlüssel.

Melanie : Dir ist schon klar: Jeder hat von dir zwangsläufig ein anderes Bild im Kopf. Du stehst wie Alice vor einer Art Galerie. Jedes Bild stellt eine andere Geschichte deines Lebens da. Hinter den Bildern geht es dann durch Türen in alle Richtungen weiter… Und anstatt nun mit diesen Bildern herumzuspielen, und so in der Illusion zu leben dein Leben zu genießen, spielst du einfach lieber mit all dem, was es noch so zu entdecken gibt…

Karl : Ich habe mir ein Zeichensystem ausgedacht. Auf den Bildern der Karten meiner Erinnerungsorte geht es wild zu. Es gibt einzelne Karten für die Wohnungen meiner Freunde und Freundinnen, für Versammlungsräume, Hotel- und Bordellzimmer, die ich für eine einzige Nacht kannte. Karten für Parkbänke, Wege und Gräber... Auf denen ich korrespondierend mit den Bewusstseinsvorgängen und erlebten Situationen alles deutlich unterscheidbar eintrage. Alles wird assoziativ imaginiert und in Chiffren übertragen. Die alltäglichen Handlungen bilden die eigentliche Dimension des Widerstandes. Auf sie kommt es an. Siehst du die kleine Frau da hinten am Stock, lass uns die mal ansprechen.

Melanie und Karl mit der kleinen Frau. Von nahem betrachtet wirkt sie gar nicht mehr so alt, wie ihr Gang zunächst vermuten ließ. Sie hat eine leicht dunkle Hautfarbe, und ist ungefähr im Alter von Karl und Melanie.

Kleine Frau : Im Park werden die Menschen, die für mich in den Strassen der Stadt oft nur wie Schatten wirken, wieder zu richtigen Menschen. Muss irgendwas an der Natur sein, das...

Melanie : Nein, man sieht nur das Gewöhnliche wieder.(Sie schaut in die Luft, als würde sie dort nach etwas suchen.)

Kleine Frau : Wenn das Gewöhnliche einen plötzlich so einholt fühlt man sich zunächst wie in einem Traum. (Lacht) Wir kennen uns schon lange.

Karl : Ich habe sie schon mal gesehen, deswegen sind sie mir auch jetzt wieder gleich aufgefallen.

Kleine Frau : Genau. Ich bin dir aufgefallen.

Melanie: Ich glaub nicht das ich ihren Namen kenne.

Karl : Diesmal, ja, da sitze ich hier im Park mit dieser Freundin, und wir reden so, und da sehe ich sie von da drüben aus wieder… Vielleicht träumen wir beide, sie und ich, den selben Traum…

Kleine Frau : Und was ist mit deiner Freundin, träumt die auch denselben...

Karl : Um das genau herauszufinden, nur deswegen verabreden wir uns ja ab und zu.

Kleine Frau : Seht, ich habe hier etwas für euch. (Sie zeigt ihnen eine Postkarte mit einem Bild von einer Landschaft.) Auch du, Melanie, hast dich lange auf diese Begegnung vorbereitet. Bedenke, wie du mit all den Dingen in den letzten Jahren umgegangen bist, die du dir nicht erklären konntest. Du hast über sie geschwiegen gegenüber anderen, aber du hast sie sorgfältig notiert und dir viel Gedanken über sie gemacht. Es sind solche Gedanken, die dich zu mir geführt haben. Ist es bei dir nicht auch so gewesen, Karl ?

Melanie und Karl drehen der kleinen Frau kurz gemeinsam den Rücken zu, weil ein Geräusch eines Autounfalls von der anderen Seite des Parks herüber schallt. Als sie sich wieder zu ihr drehen, ist sie verschwunden.

Melanie : Verdammt, sie ist einfach weg. Sie stand doch eben noch hier.

Wir sehen die kleine Frau über eine Rasenfläche gehen, der Wind weht ihr einige Blätter hinterher.

Karl : Nein, da hinten ist sie, schau doch. Da läuft sie noch.

Melanie : Wie ist die denn so schnell so weit gelaufen ?

Während wir einige Blätter im Wind den Weg durch den Park entlang wehen sehen, der Richtung nach, in der die kleine Frau aus dem Bild verschwunden ist, fällt ein helles Licht auf die Wand mit dem fertig gemalten Graffiti. Es besteht nur noch aus drei Farbtönen: Saphirblau, Kobaldblau, Azurblau.


Zweite Szene Tag Innen

KLEINER VORTRAGSRAUM

Obo, ein junger Mann dessen Manier zu sprechen ganz Rauch und Hauch, zeigt verschiedene Bilder aus seiner Heimat Gahna. Die Bilder werden zu kleinen Filmszenen, die zusammen zu gehören scheinen, ohne das ihr spezielles Verhältnis zueinander wirklich klar werden würde. Zwischenschnitte, auf das Publikum im Raum, zeigen einzelne Gesichter oder Gesten, die wie eingefroren wirken, als wären die Menschen im Raum Teil einer umfassenderen Erinnerung, oder nur Fotografien, die den Betrachter dazu auffordern, eigene Geschichten zu ihnen zu erfinden. Im Publikum meldet sich eine Frau um die zwanzig, Solvey, zu Wort.

Solvey: Ein offenes globales Informationssystem ist grundlegend für eine dynamische Kultur und die Verbreitung echter Demokratie. Wir erleben das Ende der Ära ungenügender Information. Information würde nicht länger Macht bedeuten für wenige. Wenn einige Länder nicht ein Informationsdefizit aufweisen würden, hätten die mächtigen Nationen keine Chance die anderen zu beherrschen. 1974 erklärte der Soziologe Herbert Gans die Kritiker seiner Ideen als die einzigen Hindernisse hin zu einer gerechteren Welt eines gemeinsamen kulturellen Austausches, die das Prinzip und den Wert des Teilens anerkennt. Heute sind Kritiker keine wirkliche Gefahr für die kulturelle Demokratie, oder Arbeitsdemokratie, mehr. Einzig die grossen Konzerne und die Staatsmacht, die Gesetze und Technologien nur im Sinne dieser Konzerne anwendet, bedrohen noch die kulturelle Demokratie.

Obo: Durch meine Arbeit als Künstler hatte ich Gelegenheit, in der Welt herumzukommen. Ich sah Armut und Entmündigung von Menschen. Es verändert einen, wenn einem bewusst wird, was es für die Menschen bedeutet, täglich in so einer Situation zu erwachen. Auf der globalen Ebene bekam ich den Eindruck eines absolut zerstörten, korrupten und ausbeuterischen Systems. Nach einer Weile fragte ich mich, ob es möglich wäre, einen großen sozialen Wandel herbeizuführen.

Melanie: Es gibt nun mal eine alte Gesellschaft, die meiner Meinung nach an sich selbst zugrunde geht. Und es gibt eine neue Gesellschaft, die bereits entsteht und weiter wächst. Nun frag ich sie, sagte ich zu den Politikern aller Parteien in dieser völlig vorgegebenen Situation, da im Studio, ob sie nicht selbst oft schon bemerkt haben, dass die Politik des Hinschwebens zwischen dem Alten und dem Neuen nicht haltbar ist. Denken sie mal darüber nach.

Auch darüber was passieren würde, wären die Gäste hier nicht sorgfältig genug gecasted worden. Wenn den Zuschauern nicht schon vorher unterstellt würde, dass sie es lieber haben, wenn es zu eingrenzbaren Konflikten kommt und es im bestimmten Rahmen kracht, dann könnte tatsächlich Sinnvolles zur Sprache und Konsens zum Ausdruck kommen. Ich erinnere mich an einige Casting-Gespräche, die ich führen musste, sagte ich zu denen, während versucht wurde mich zu unterbrechen, entweder gingen die Gespräche über mich als potentiellen Talk-Show Gast. Oder es ging um repräsentative Ausländer, die ich nach bestimmten Gesichtspunkten empfehlen sollte. Etwa: Gut Deutsch sprechend ohne Kopftuch. Schlechtes Deutsch mit Kopftuch. Dies hier soll eine Show sein, oder? Also man soll es gar nicht zu ernst nehmen...

Rund 5 Milliarden Menschen leben in absoluter Armut. Im Grunde ist die Situation heute noch viel schlimmer als Marx sie beschrieben hat. Während im 19. Jahrhundert die Menschen vor den Toren europäischer Städte unter menschenunwürdigen Umständen produzierten, geschieht das heute in den Konzentrationslager der Dritten Welt und in China. Dort schuften die Menschen für 2 Euro am Tag, um Iphones, Sportschuhe, Jeans zu produzieren. Sie schuften in den so genannten Freezones. Mauern und Stacheldraht umgeben diese Arbeitslager. Ihre Arbeit garantiert unseren Wohlstand. Sie arbeiten für Dollar und Euro. Doch am Ende ist es sinnlos. Denn die Banken, die Dollar und Euro ausgeben, sind pleite. Sie drucken nur noch Zettelchen, auf denen ein Wert draufsteht. Am Ende sind alle Verlierer: Jene die die Zettelchen haben, auf denen irgendein Wert drauf steht und jene, die ihr ganzes Leben sich im Hamsterrad drehten, sich vom Lametta einer kapitalistischen Überflussgesellschaft antreiben ließen.

Obo: Wir werden in der Lage sein, all diese Praktiken gänzlich zu beenden. Eine wirkliche Verbesserung im Leben von Milliarden von Menschen können wir durch einfache Mittel erwirken. Wir müssen nur die Mechanismen nutzen, die bis zu einem gewissen Grad auf der nationalen Ebene bereits funktionieren. Das derzeitige Chaos hat Desmond Tutu "globale Apartheid" genannt. Immer mehr Menschen beschäftigt die Frage, ob ein globales demokratisches System tatsächlich umsetzbar ist. Kopenhagen machte schmerzhaft deutlich, dass es absolut keine demokratischen Entscheidungsprozesse auf globaler Ebene gibt. In Kopenhagen war es Evo Morales, der als allererstes Staatsoberhaupt ein globales Referendum verlangte. Wenige Wochen darauf, bei der Vorstellung im EU-Parlament, sagte der Repräsentant des derzeitigen spanischen EU-Ratspräsidenten, dass wir die Rahmenbedingungen für einen globalen demokratischen Prozess schaffen sollen. Ich sehe einen schnell voranschreitenden Prozess. Die Menschen dieser Welt wollen ein Mitspracherecht haben, wenn es darum geht, wie die Welt organisiert ist. Dieses Verlangen kann niemand unterdrücken. Was wir nun tun müssen ist, ein gesundes globales demokratisches System errichten, und nicht wieder eines, das nur so tut.

Schließlich zeigt Obo als letztes Dia ein Bild von einem Massei in Kriegsschmuck

Obo: Diese Aufnahme habe ich gemacht auf einen Ausflug nach Kenya. Etwas touristisch dieses Bild, macht doch nichts, oder? (Das Publikum lacht) Gerd steht auf. Er ist ein Mann, um die 35 Jahre alt, der etwas von einem Detektiv wieder Willen an sich hat.

Gerd : Da muss man weit reisen um so jemand im Orginal zu begegnen.

Solvey : Wirkt aber etwas gestellt.

Melanie : Wir hatten da letztens so eine Begegnung. (Sie schaut Karl an um von ihm eine Unterstützung zu bekommen, wirklich darüber zu sprechen )


Dritte Szene Tag Draußen

SOLVEY UND MELANIE LAUFEN ÜBER DIE STRASSE

Solvey: Du siehst ja aus als wäre dir ein Geist begegnet.

Melanie: Karl und mir.... Wir haben eine Frau getroffen, die uns zu kennen schien. Und ganz plötzlich war sie verschwunden, wir haben sie nur noch in der Ferne gesehen.

Solvey : Seid ihr dieser Frau denn gefolgt?

Melanie : Bis wir sie nicht mehr sehen konnten. Die war verdammt schnell, die Alte.

Solvey : Erinnert mich an die Begegnung die Andrej Bely hatte. Also es gibt Menschen, die mit so etwas Kontakt haben. Die Kontakt haben zum Übersinnlichen. Ich bin davon überzeugt.

Melanie : Jeder Mensch kann ein bewusster Schöpfer seiner Lebensumstände werden, wenn er nur die entsprechend Freiheit dazu bekommt. Eine gewisse wirtschaftliche Unabhängigkeit. Wir treten ein in das Zeitalter der Gedanken. Die Menschen beginnen klarsichtiger die Bindungen von Gedanken und Energie an ihre Lebenswirklichkeit wahrzunehmen. Jeder ist der Dichter seines Lebens. Uns wird klar, inwiefern Geld bisher die Vorraussetzung dafür war, ob jemanden auch Menschenrechte zugesprochen wurden. Dies macht uns deutlich, dass wir eine Agenda brauchen, die jedem Menschen auf Erden die gleichen Rechte auch wirklich garantiert. Da diese Menschenrechte, die ja längst formuliert sind, nicht wirklich von den Menschen ohne Geld auch eingefordert werden können, bedeutet dies, dass wir bislang nur in verschiedenen Arten von Scheindemokratien leben. Erst wenn sich die Bürger beginnen eine wahre Demokratie zu gestalten, können die Menschenrechte auch wirklich für alle gleichermaßen garantiert werden.

Solvey :

Das Menschenbild der Gegner des Grundeinkommens wurzelt vor allem und am tiefsten in der Marktideologie. Und in den überholten Vorstellungen von Mangel und Sünde. Dabei sollte man sie mal darauf aufmerksam machen, seit wann eigentlich all unsere Lebensgrundlagen nur noch über Märkte und deren willkürliche Manipulationen zu uns kommen. Und zu wessen Gunsten das geschieht. Ist nämlich erst etwa seit 1880 so. Gleichzeitig wurde aber durch diese Kommerzialisierung der Lebensgrundlagen weltweit künstlich Mangel geschaffen. So sterben bis heute täglich unnötiger Weise unzählige Menschen an Hunger oder sind nicht fähig ihr volles kreatives Potential zu leben. Und das in einer Welt des Überflusses. Trotzdem noch an der überholten Marktideologie festhalten zu wollen ist einfach menschenverachtend.

Hast du auch Kontakt zu irgendwelchen Propheten? Lass ihnen aber nicht den Kopf abschlagen…

Melanie : Salome? Ach nein. Ich spreche einfach über das, was ich weiß.

Solvey : Und was weißt du?

Melanie : Es ist wie im alten indischen Theater, wo jeder Dorfbewohner abwechselnd für einige Zeit in die Rolle einer mythischen Figur schlüpft und zum Sprachrohr für das Unbekannte wird. Wir stecken alle drin in einer gemeinsamen Analyse und jeder spürt unterschiedlich deutlich, dass gleich eine ganz neue Sichtweise durchbricht. Die Menschen finden zu einer neuen Selbst-Identität außerhalb eines kollektiven Masken-Bewusstseins.

Solvey : Unser Leben vollzieht sich jetzt unkontrollierter und deshalb vielleicht echter und beständiger …

Melanie : Andererseits ist es schon erstaunlich, wie einem der Vormarsch des geldgierigen Individualismus und der ganze graphische Sadismus der einen umgibt trotz allem in die Ecke eines humanen Realismus treibt. Zum Beispiel meine Finanzen. Ich mache mir überhaupt keine Gedanken mehr darüber, was nach meinem Tod mit meinem Geld geschieht. Weil, real betrachtet, verliert jeder in unserer Generation täglich doch soviel Geld, wie er sowieso kaum mehr an materiellen Werten anhäufen kann. Aber die immateriellen Werte... Triffst du dich morgen wieder mit Gerd. Kann ich dazukommen ?

Solvey : 18.00 im Vernetztem Universum.


Vierte Szene Tag Innen

KARL UND GERD auf der Strasse

Lichtreflexe an den Wänden werfen Muster, die Karl und Gerd staunend wahrnehmen. Nichts spektakuläres. Nur Lichtreflexe. Doch die beiden finden das Licht wunderschön und staunen es an, während niemand anderes um sie herum es wahrzunehmen scheint.


Fünfte Szene Tag Innen

SOLVEY GIBT EINER KLEINEN GRUPPE VON KINDERN MALUNTERRICHT

Die Kinder Reine, Tamina und Tomeko lassen Aquarellfarben zu bunten Mustern auf ihrem feuchten Papier verlaufen.

Solvey : Achtet darauf was das Bild von euch will. Fragt es mit euren Augen. Antwortet mit den Farben. Wartet mal. Seht mal diesen Luftballon hier, wenn ich da oben mit dieser dünnen Nadel hinein steche platzt er nicht, wieso ? (Sie macht es.)

Reine: Ich weiß. Das ist wie beim Wasser. Da gibt es doch auch so eine Oberflächenspannung. So das bestimmte Tierchen das nutzen können und über das Wasser rennen.

Solvey : Ich weiß es selbst nicht, aber er verliert keine Luft, seht ihr.

Tamina : Vielleicht ist es ja ein Wunder.

Tomeko : Ach, was. Ich zeig euch wie der platzt. (Er setzt sich wütend auf den Ballon drauf und der knallt lautstark.)


Sechste Szene Tag Innen

Gerd in seiner Wohnung

Gerd tritt in seine Wohnung. Er schaltet seinen Computer ein.

Wir hören Solveys Stimme aus dem Off : Er saß noch an der selben Stelle des Raumes, als ich das Zimmer wieder verließ. Von dort, wo ich stand, konnte ich nicht genau sehen was er tat. Ich habe mir auch nicht gemerkt was ich überhaupt zuerst sah. Ich sah kurz sein Gesicht. Daran erinnere ich mich. Ich begann damals mir diese Geschichte über ihn auszudenken. Als ich ihm davon erzählte verstand er gleich was ich meinte. Er hatte überhaupt verstanden. Sagen wir lieber, er wurde heiterer Stimmung. Was für mich sein Verständnis bekundete. Aber vielleicht irrte ich mich.


Siebente Szene Nacht Draußen


DREI UHR MORGENS. AUS DER BAR VERNETZTES UNIVERSUM KOMMEN VÖLLIG ERSCHÖPFT VOM TANZEN GERD, SOLVEY UND MELANIE.

Melanie : Ein Zustand wo du einfach alles geschehen lässt. Schaut doch mal da...

Gerd : Was ist denn das? Ich glaub ich habe gerade eine Vision von der Art, an die selbst ich glauben kann.

Auf einer Rasenfläche, direkt neben ihnen kippt eine Frau nach vorne und fällt fast genau auf ihr Gesicht. Sie liegt dort mit offenen Mund, hinter ihr ein junges Mädchen, das sich nicht entschließen kann ihr zur Hilfe zu eilen. Statt dessen wendet es sich um und schaut hin zu einem Mann hinter ihr, über dessen Lippen kurz ein Lächeln flackert. Die Frau schiebt ihre Hände mühselig nach vorn, als wollte sie ihr Gesicht nachträglich beschützen. Dann drückt sie sich hoch, steht auf allen Vieren zittert am ganzen Körper, reckt ihren Kopf nach oben und lässt einen tiefen Laut aus ihrem Mund. An den Händen, deren Finger sich in den Rasen krallen, trägt sie Ringe. An manchen Fingern trägt sie sogar mehrere Ringe. Ihre lange Halskette berührt den Boden. Die Fragen von Gerd, seine Versuche sie aufzurichten, scheitern.

Die Frau: Lasst mich in Ruhe. Leckt mich alle am Arsch. Selbst der, dieser Lama, isst doch eigentlich gerne und viel Fleisch.

Ein später Passant auf der sonst leeren Straße nähert sich ihnen.

Der Passant: Ich kenne sie, ich kenne ein System, mit dem sich der Schaden dieser Situation natürlich begrenzen lässt. Diese Frau und ich, wisst ihr, wir sind uns verdammt ähnlich.

Die Drei ziehen weiter in die Nacht

Gerd : Melanie, ist dir eigentlich der Stein an der Halskette von der aufgefallen?

Solvey : Die hat genug Steine getragen um alles Übel der Welt von sich abzuwenden, dachte sie zumindest. Kennst du dich mit Steinen aus, Melanie ?

Melanie : Mehr mit Salzen. Ich lecke ab und zu an einem Halid.

Gerd : Das war ein Türkis, was die an der Kette hatte. Der Stein hat die Eigenschaft in zwei zu brechen wenn einem ein Unglück droht. (Lacht ungewollt auf)

Solvey : Unsinn. Menschen die im Dezember geboren sind tragen den als Geburtsstein. Ein reiner Türkis verändert die Farbe bei bestimmten Wetter oder wenn du krank wirst. Das hängt mit seiner Kristallgitter-Struktur zusammen. Bleicht manchmal rätselhafter Weise völlig aus wenn sein Besitzer stirbt. Die Grösse des Steins hat aber ebenfalls Einfluss auf seine Eigenschaften.


Achte Szene Tag Innen

MELANIE MIT CAMILLA, EINER FRAU UM DIE 70, IN EINEM DRITTE WELT LADEN

Melanie : Ich habe hier auch so einen an den Fingern. (Sie zeigt auf ihren Steinring.)

Im Grunde geht es um Schönheit und wie offen wir für sie sind. Können sie die Schönheit eines solchen Steines schätzen? Dieser ist nicht im Verkauf…

CAMILLA: Ich wollte ihn auch gar nicht kaufen. Ich muss nicht immer alles kaufen. Wissen sie, meine Kinder leben in so einem halb verfallenem Bauernhof, den sie wieder in Stand setzen. Also es gäbe genug Arbeit, wenn es eine Grundabsicherung gäbe. Die Menschen hätten genug Zeit zu recherchieren, ob das, was uns die Politiker anbieten nur Ablenkungsmanöver sind. Die Bevölkerung könnte zu Bewusstsein erwachen.

Melanie: Schon 1995 machte die UN folgende Berechnung: Wenn unbezahlte Arbeit bezahlt werden würde, wäre sie im Jahr 16 Trillionen Dollar wert. Davon sind alleine 11 Trillionen unbezahlte Frauenarbeit. Das entspricht in etwa der Hälfte der gesamten weltweiten Wirtschaftsleistung. Das gegenwärtige System lebt von der Ausbeutung dieser Menschen. Dazu kommen die Schulden, die dieses System kommenden Generationen aufhalst.

Wenn alle ihre Arbeit fair bezahlt bekommen, sind sie auch hilfsbereit gegenüber Schwächeren. Im Moment halten sich die Mächtigen nur noch durch Profiling über Wasser. Die Politik braucht die Menschen. Die Menschen könnten gut ohne Politik auskommen. Das abgeschottete Leben der heutigen Politiker ist dem Leben in einer Militärkaste sehr ähnlich. Die heutigen Politiker vertreten zwar das Volk, sind aber keine Vertreter des Volkes. Nur wer gegenüber der inneren Kaste Loyalität und Gehorsam bewiesen hat, kann in einer politischen Partei aufsteigen.

CAMILLA: Bei den Beamten-Wissenschaftlern ist das nicht anders. Dort darf man nur in eine Richtung forschen. Das Leben mit meinem Mann hat mich gelehrt wie tief die Angst des mechanistischen Naturforschers vor allem Lebendigen ist, vor der Anerkennung einer kosmischen Lebensenergie. Was ist denn eigentlich Profiling?

Melanie: So nennen sie das, wie sagt man gleich, Daten - Ermittlungen. Mit Hilfe solcher Daten können etwa Wirtschaftsberater Politiker bestechen um Berateraufträge zu erhalten. Sie finanzieren Medien- und Umfrageunternehmen. Sie finanzieren Spielfilme. Sie kaufen Sendezeiten anstatt die Erforschung der sozialen Genese von Neurosen voranzutreiben. Reich entdeckte vor 80 Jahren wie die gesellschaftlichen Moralvorstellungen die Menschen hörig und stumpf macht und derart der Rebellion gegen die Unterdrückung überhaupt entgegenwirkt.

Camilla: Die Sexualunterdrückung stützt die Kraft der Kirche, die sich mit Hilfe von Schuldgefühlen die Menschen gehörig macht. Genauso machte sie die Menschen der staatlichen Autorität und der kapitalistischen Ausbeutung hörig, indem sie autoritäre Ängstlichkeit erzeugte. Sie lähmte so die intellektuellen kritischen Kräfte der unterdrückten Massen und die zielbewusste Entwicklung der schöpferischen Kräfte und dadurch die Erreichung des von allen verfochtenen Ziels der menschlichen Freiheit. Ich kann ja bei mir im Verein nur ehrenamtlich arbeiten, weil ich als Opfer des DDR- Regimes eine Entschädigung erhalte. Aber wie machen sie das hier? Die momentane Ordnung richtet sich doch gegen Menschen, die andere Menschen lieben oder Kinder erziehen.

Melanie: Wie ich das mache hat damit zu tun, was ich alles nicht mehr mache.


Neunte Szene Tag Innen

SOLVEY IN EINEM ZUGABTEIL

Solvey beobachtet die Leute in ihrem Abteil. Mittagssonne spielt auf ihrem Gesicht. Zu einigen Gesichtern kommt sie immer wieder zurück.

Solvey : (Ihre Stimme aus dem Off) Manchmal denke ich mir Geschichten zu den Leuten aus, denen ich so begegne und stelle manchmal dabei fest, das ich etwas über sie weiß, was sie selbst nicht wissen. Diese junge blühende Frau da drüben hat heute einen wichtigen Tag gehabt. Es scheint ihr, dass ihr Leben ab heute einen verdienten glückvollen neuen Anlauf nimmt. Aber es warten noch mehr Neuigkeiten auf sie an diesem Tag, die all ihre Vorstellungen, die sie bisher über sich hatte, noch einmal in andere Bahnen lenken werden.

Sie beobachtet nun ihre Nachbarn, einen türkischen Jungen und, und seinen Gegenüber, einen Szenetypen, der mit offenen Mund schläft.

Der türkische Junge: (zu dem schlafenden Szenetypen)

Eh, mein Vater will das ich meine Reise in die Türkei dieses Jahr selber bezahle, jetzt wo ich verdiene. Bin gereist, Klick. Wenn du angekommen bist, heißt es: Halt den Raum geschlossen. Schreib hier nichts an die Wände. Unser gemeinsamer Prophet, Moses, okay, bekam das Knirschen des Schreibrohrs auf der Tafel zu hören. Jedesmal, wenn ich an die letzte Reise denke, bekomme ich einen Asthmaanfall. Meine Schwester hat das Lächeln eines kleinen Kindes behalten. Wie macht die das bloß? Das ist nicht bloß eine menschliche Leistung. Das ist ein heiliger Akt. Der Islam verbietet den Pessimismus. Okay? Und was die Gangs inmitten der Städte betrifft... In der Zeitung ein Bild von einem Umerziehungsheim, welches auf eine Art menschenwürdige Zukunft vorbereiten soll. Diese Gesellschaft hat diese hilflosen Verbrecher mit erzeugt und hat auch die Verantwortung nun für sie. Jetzt alles selbst bezahlen, wo wir arbeiten gehen? Eh, zwischen zwei Deutschen ist ein direkter Austausch wohl nicht mehr möglich. Dies ist die neue Identität der Imigrantenkinder, die sich erst mal ganz neu bilden muss. Das hat Frische. Wobei unter Deutschen keiner wirklich mehr miteinander spricht, oder? Die Medien haben eure ganze Kultur aufgesaugt. Seht ihr ein verschlungenes Straßensystem denkt ihr zuerst an ein überlebensgroßes Disneyland-Karussel für Motorfahrzeuge. Hier: Ihr braucht jemand, sage ich mal, der euch eine neue Art zu sprechen lehrt. Eine Obdachlosensprache. Eine Sprache, auf Augenhöhe mit den Tatsachen. Das Problem der heutigen Machteliten: Sie leben so abgehoben und können sich nicht mehr in die Lage der normalen Menschen einfühlen. Für sie ist Armut eine Abstaktion. Sie haben selbst nie so etwas kennen gelernt. Okay? Eine Sprache, um das Gegenwärtige und das Wirkliche zu feiern. Das brauchen sie. Eine Sprache, die allen Menschen den Sinn der einfachsten täglichen Handlungen lehrt. Die davon singt, wieso die lebendige Chemie niemals getauscht werden kann. Die lehrt aus der Not heraus eine Kleinigkeit, etwas Raffiniertes zu erfinden. Niemand sollte mehr denken, dies alles ist bloß fürs Bruttoprodukt, oder für den Gewinn. Es ist für die Seele. Manchmal sind nicht genug Figuren auf dem Brett übrig, auf beiden Seiten, so kann der König nicht mehr Matt gesetzt werden. Dann muss man sich etwas völlig neues einfallen lassen, will man trotzdem weiterspielen. Vielleicht ist es aber auch ein dummes Spiel, weil die Regeln vorschreiben, dass es immer einen Verlierer geben muss.

Der Zug fährt in einen Bahnhof, man steigt ein und aus. Am nächsten Bahnhof verlässt auch die Frau, die ihr gegenüber saß, den Wagen. Solvey, eher automatisch, beobachtet, wie sie gegen den sehr langsam anfahrenden Zug den Bahnsteig in Richtung des Zugkopfes geht und sieht wie diese unerwartet plötzlich inne hält, die Stirn runzelt und vor sich hin schaut, ganz so als ob ihr etwas eingefallen wäre, was sie noch nicht ganz einordnen kann.


Zehnte Szene Tag Außen / Nacht Innen

KARL LÄUFT AUF DER STRASSE/ MELANIE UND KARL IN EINEM ZIMMER

Karl ist etwas wärmer angezogen, als der Frühlingstag es erwartet. Er geht schnell, läuft fast, die Augen sind geschlossen. Hinter seinen Schultern ein Rucksack. Es fängt leicht an zu regnen. Karl hält behutsam den Rucksack über den Kopf, als ob der kleine Regen etwas zerstören könnte. Er versteckt sich unter der nächsten Markise, drückt sich gegen die Wand, den Rucksack immer noch über dem Kopf, steht er ohne Bewegung, schaut, wartet.

Karl :(Seine Stimme aus dem Off) Manchmal denke ich mir Geschichten aus. Ich bin dann meinen Gedanken wie realen Handlungen ausgesetzt…

Karl neben Melanie in einem Bett . Melanie ist schon wach und beobachtet wie Karl aus seinem Traum erwacht.

Melanie: Du sagtest einmal zu mir, dass ein Film in dem du vorkommen würdest, sich erst über das Leben seiner Darsteller zu seinen Bildern vortasten müsste.( Zieht eine Handycam aus ihrer Tasche neben dem Bett und richtet sie auf Karl der beginnt in die laufende Kamera zu sprechen. )

Karl : Dienstag, morgens. Melanie disqualifiziert sich in Punkto grober Realismus. Sie ist offensichtlich keine Frau, die durch Sex, das heißt auf regulären Weg, versucht, ihr Schicksal in den Griff zu bekommen. Sie braucht kein Objekt oder einen äußeren Anlass um glücklich zu sein.

Melanie : (Gibt ihm die Kamera selbst in die Hand. Er filmt ihr Gesicht während sie spricht.) Dieser Mensch wird nicht von seinen Gedanken beherrscht. Dieses Bewusstsein sammelt sein Wissen frei aus allen Quellen und erschafft so eine eigene Vorstellung von der Wirklichkeit.

Karl : Gemessen an dem von den Kameras Gesehenen, erscheint mir meine eigene Welt oft wie ausgedacht, unwichtig. Aber was habe ich sonst?


Elfte Szene Tag Innen

KLEINE FRAU (RUTH) UND CAMILLA IN EINEM LAGER DES DRITTE WELT LADENS

An einem Tisch trinken die beiden älteren Damen zusammen Tee.

Ruth : Hast du gesehen was da wieder für Sachen abgeliefert wurden ?

Camilla : ( Sie steht auf und geht sehr schwerfällig ein paar Schritte, als leide sie an einer Lähmung) Ja. Alles mögliche. Aber was steht da eigentlich hinten immer in der Ecke herum.

Sie geht zu einigen großen Bilderrahmen, die angelehnt an die Wand in einer Ecke stehen. Zieht mit einer größeren Kraft als sie sich selbst zugemutet hätte einen Rahmen hervor. Sieht sich an was da für ein Bild in dem Rahmen ist. Es ist eine Madonna mit einem Jesuskind von Raffael als Poster. Um den Kopf des Christuskindes hat der Künstler ein Lichtkreis gemalt. Sie schiebt das Bild zurück und entdeckt dahinter noch ein anderes. Auch dieses zieht sie hervor und betrachtet es. Es handelt sich um eine moderne Darstellung von einigen Männern, die über ein Feld laufen.

Camilla : Da laufen so Jungs über ein Feld. (Sie dreht das schwere Bild, wieder mit einer großen Kraftanstrengung, ihrer Kollegin entgegen.)

Ruth : (Liebevoll und amüsiert) Es ist das Merkmal des Göttlichen sich verborgen zu halten.


Zwölfte Szene Tag Außen

GERD SITZT MIT RAMON UND MIKE, ZWEI SEINER GLEICHALTRIGEN FREUNDE, VOR EINEM LOKAL

Gerd faltet ein Muster in eine Seite Papier und hört dabei seinen Gedanken zu.

Gerd: Ich habe mich hier schon fast eingelebt bei euch. Nur das ich noch nicht diese billige Unterwäsche aus Nylon trage, wie ihr. Aber das kommt bestimmt auch noch. Ein Asylant schaut Millionen Meilen weit zurück nach Hause und redet in fremden Zungen. Da steckt Poetik drin, nicht?

Ramon: Seht ihr diese Leute, wie sie über den Platz gehen. Die Kinder, die Erwachsenen. Es sind ganz einfach Menschen wie diese, die dieses Land zu dem gemacht haben, was es heute ist.

Mike : Alle Dichter sind Diebe: Hört euch das an:

"Liebster,obwohl die Nacht schon vorbei,

Plagt der Traum das Heute noch,

Der uns in einen Raum gebracht,

Der einst einer Höhle glich."

Ramon, hast du eigentlich noch die Live Disc mit Misty ?

Ramon : Das war mal etwas, was ich eine sinnvolle Investition nennen muss. Der Computer bringt Menschen zusammen nach einem Zufallsprinzip... Entsprechend seiner Vision. Er ermöglicht den Menschen neue sinnvolle Erfahrungen. Nein, er bringt Menschen zusammen die sich nach sinnvollen Erfahrungen sehnen.

Gerd: Ist doch dasselbe.

Mike: Lass ihn doch ausreden.

Ramon: Der Typ sucht sich also...

Gerd: Misty. Wer ? Meint ihr diese Erzieherin, die dir deine Möglichkeiten dich zu spezialisieren abruft ?

Mike : Wartet mal! Der Computer, wie die Dichter, sucht nach etwas Unbestimmten... Ramon, er meint die selbe wie ich, die von der Live Disc. Misty Soundso. Eine wahre Bewohnerin der Hölle.

Ramon : Ja, eben die. Die haben mit der das Ding raus gebracht: Mein Leben als Misty. Aber das Programm ist zu weit in ihre Vergangenheit eingetaucht. Ich konnte das an der Körpersprache erkennen. Scheiße, woher willst du wissen, ob sie auch diejenige ist, für die sie sich ausgibt. Woher willst du wissen, dass sie das ist was sie von sich behauptet. Woher willst du wissen, das sie nicht irgend jemand ist. Jemand mit dem du nicht gerechnet hast, kann in Prinzip irgend jemand sein.

Gerd: Eine aus der Hölle also. Und ich dachte...

Mike: Eine ehemalige Bewohnerin der Hölle, genau genommen. Hat sich aus der Vorstellung von der Hölle befreit. Dichter die sich von dieser Vorstellung befreien, kommen in den Himmel wenn sie sterben.

Gerd: Eine interessante neue Mythologie ist im entstehen...

Karl kommt vorbei und holt Gerd ab. Ramon und Mike winken ihnen kurz zu, reden dann weiter.

Ramon : Und jetzt habe ich im Rechner alles mögliche was ich noch gar nicht durchblicke. Auch Fehler können korrekt sein. Vielleicht geht die Firma mit der Sache Pleite bevor ich Zeit finde mich da einzuleben.

Mike : Es scheint da so eine Datei zu geben, die sich Mistys Display nennt.

Ramon : Ach, wirklich? Ich will dir mal was verraten. Mistys Display gibt es tatsächlich. Alles voller Vitrinen, Fenster. An einer Vitrine hängt eine Brille. Manchmal gehe ich zu dieser Vitrine… Öffne sie. Hole diese Brille heraus… Setze sie auf… Und los geht das Spiel.

Mike : (Schaut auf sein Handy) Was soll denn diese Gettonummer? Ich bin schon seit geraumer Zeit damit beschäftigt die abzuwimmeln. Alle Welt soll ich hier und da ein paar Stunden vertreten. Ich muss echt mal aufpassen. Bin ich Freund, oder Vermittlungsagentur?

Ramon : Ist doch schließlich nur ein Organisationsproblem?

Mike : Kennst du das, wenn eine Sache, für dessen Zentrum du dich hältst, plötzlich universale Ausmaße annimmt?

Ramon : Eine schöne junge Frau wird aus einem Nachtclub abgeführt. Eine Touristen erkennt sie und spricht sie an: Verzeihung, sind sie nicht eine Freundin meiner Mutter. Sagt die Frau: Ich bin Elizabeth Taylor und verpiss dich.


Dreizehnte Szene Tag Außen

GERD UND KARL LAUFEN DIE STRASSE ENTLANG

Karl raucht beim Laufen. Seine Zigarette geht ab und an aus und Gerd gibt ihn dann wieder Feuer.

Gerd : Ich wusste ja damals noch nichts über die ganzen Techniken.

Karl : Wie ist denn das mit den Heilpraktikern, die durch autogenes Training heilen ?

Gerd : Manchmal bin ich früher einfach überall hineingeschneit. Da gehe ich doch eines Tages durch mein Heimatdorf, keine achthundert Einwohner, und entdecke da auf einem Schild an einem Haus die Aufschrift: Arzt und Hypnotiseur.

Den muss ich kennen lernen, denk ich mir. Im Warteraum sitzt ein Patient den der Arzt glatt übersieht. Ich sag zu ihm, diese Frau war noch vor mir da… Und dann zieht der seinen weisen Kittel über in dem Moment wo ich in sein Sprechzimmer trete. Ich erzähle ihm von meinen Visionen. Dass, wenn ich an einer Apotheke vorbeigehe, ich genau spüre wie die ihren Verkaufsraum anders gestalten müssten, damit er heilende Wirkung hätte und all solche Sachen. Er unterbricht mich irgendwann und sagt das er Reinkarnation Unsinn findet. Und in dem Moment drehe ich mich um und sehe wie an einer Wand seiner Praxis ein riesiges Poster von Jesus am Kreuz hängt. Daneben hat er ein riesiges Bücherregal stehen. Haben sie all das da studiert, frage ich ihn. Das erinnert mich an den Mann, sage ich zu ihm, der sein ganzes Wissen ablehnte, weil ihm bewusst wurde, das er das was er gelesen hat, nicht wirklich in der eigenen konkreten Erfahrung nachgeprüft hatte. Machen sie es gut, und bevor ich draußen bin sage ich noch zu ihm, das er in seinem weißen Kittel aussieht wie ein Metzger.

(Sie gehen durch eine Strasse und treten dann in eine Galerie ein.)


Vierzehnte Szene Innen Tag

GERD UND KARL IN EINER GALERIE MIT EINER KURATORIN

KARL SCHAUT SICH KURZ EINE VIDEO-SCHLEIFE IM SCHAUFENSTER DER GALERIE AN AUF DER EINE JUNGE SEHR ATTRAKTIVE FRAU ZU SEHEN IST DIE SCHREIT: “I want my fucking art back—I want my fucking art back!”

Karl : Wir hatten uns angemeldet.

Kuratorin : Ja, wir haben uns ihre Sachen angeschaut.

Gerd : Was halten sie davon : Wir laden alle Künstler, die sie vertreten an einen Abend hier ein und stellen ihnen die Sache vor.

Kuratorin : Ja, vielleicht. Aber für mich ist das eigentlich gar keine Kunst, was sie da machen.

Karl : Für uns ist alles Kunst.

Kuratorin : Da denke ich entschieden anders. Für mich ist bei weiten nicht alles Kunst. Was ist es zum Beispiel, was sie zum Künstler macht ?

Karl : Ich interessiere mich für alles.

Kuratorin : Ich jedenfalls bin keine Künstlerin. Und darüber bin ich auch froh.(lacht) Die Idee allein schon, Künstlerin zu sein, macht mir Angst. Kennt ihr Blakes Winchester Trilogy aus dem Jahre 2004, eine Studie über eine Frau die langsam dem Wahnsinn verfällt, und mit Abstand die beste Arbeit von ihm. Doch kurz nach dem er diese Arbeit abschloss, verfiel er selbst dem Wahnsinn.

Karl : Worum geht es denn in dieser Arbeit?

Kuratorin : Um Sarah Winchester, Erbin des Vermögens des Winchester Waffen Vermögens, die, vom Unglück nach dem Tod ihres Mannes und ihrer Tochter überwältigt, sich in ihrer Verzweiflung an ein Medium wandte, welches ihr sagte, sie müsse nach Kalifornien ziehen und niemals aufhören an einem gigantischen Haus zu bauen, um all die Geister zufrieden zu stellen, die durch die Waffen umgekommen sind, die ihr Mann hergestellt hat. Sie tat dies übrigends wirklich. Das Winchester Mystery House ist eine berühmte Touristen Attraktion in San Jose, an der über 38 Jahre lang gebaut wurde. Es besitzt 160 Räume, 40 Treppen, 950 Türen und 10 000 Fenster.

Gerd : Interessant.

Karl : Harmonie ist eine Wissenschaft. Diejenigen, die diese Wissenschaft ausüben, sind die wahren Künstler. Aber natürlich hat jeder die Möglichkeit sein Bewusstsein als eine Resonanz zu identifizieren und sich auf die Frequenz verschiedener Realitätsebenen zu schwingen.

Kuratorin : Das Medium erklärte ihr die Geister von tausenden Menschen, die durch eine Winchester Waffe umgekommen sind, würden nun Rache an ihr nehmen wollen und sie schließlich töten. Um sich zu retten gäbe es nur eine einzige Möglichkeit: Dieses Haus für sich und diese Geister zu bauen. Sobald sie damit aufhören würde, müsste sie sterben. Und was tat Sarah Winchester? Sie gab ihr gesamtes Erbe dafür aus ein Raum nach dem anderen anzubauen. Und so entstand dieses architektonische Meisterwerk mit lauter Treppen die ins Nirgendwo führen und Schornsteinen, die nur den einzigen Zweck haben irgendwelche Decken abzustützen.


Fünfzehnte Szene Innen Tag

REINE MIT SEINER GROSSMUTTER, RUTH, IN EINER WOHNUNG

Ruth : Hast du schon deine Fernseh-Malzeit zu dir genommen? 20 Päckchen aus dem Sparangebot sind noch übrig und du rührst kein einziges an.

Sie hören beide dem Vogelzwitschern zu.

Reine : Jetzt beginnt die Paarungszeit.

Ruth steht auf und geht ins Nebenzimmer. Reine spielt mit einem Zauberstab, der innen mit Wasser und Glitzersteinen gefüllt ist. Er hält den Stab ins Sonnenlicht, das die Wohnung durchflutet. Er beobachtet wie die Reflexionen des Lichtes vom Wasser des Stabes gebrochen ein Kreismuster auf den Boden werfen. Er spielt mit diesen Reflexionen. Plötzlich tritt seine Oma ins Zimmer und steht so im Licht, das die Reflexionen auf dem Boden verschwinden.

Reine : Es tut mir ja leid Oma, aber du stehst im Licht.

Ruth : Als ich ein Kind war, wurde ich manchmal von anderen Hausbewohnern angesprochen. Wildfremde nahmen noch freundlich Kontakt zu einem auf. Heute ist sowas undenkbar. Alle scheinen irgendwie in Alarmbereitschaft zu verharren. Auch Kindern geht man aus dem Weg. Geht alles seinen summarischen Gang. Wer sich kaum auf seinen zwei Beinchen halten kann, wird schon in die Terminologien mit ein bezogen.


Sechzehnte Szene Außen Tag / Innen Tag

KARL AUF DER STRASSE UND IN EINEM JOBCENTER

Karl fotografiert Häuserwände. Nein, wir sehen er fotografiert eigentlich das Licht auf den Häuserwänden. Genauer : Lichtkreise und Muster und Symbole die irgendwie auf die Wände reflektiert werden. Passanten gehen an ihm vorbei und wundern sich was er denn da fotografiert. Wir sehen wie er in ein Jobcenter eintritt.

In einem Raum des Centers sitzt Karl an einem Schreibtisch vor einem anderen jungen Mann.

Jobvermittler: Ich bin seit Jahren damit beschäftigt Zuständigkeiten zu ermitteln.

Karl: Ich frage jetzt mal nach, nur für den Fall das ich mich verhört habe. Sie kriegen Geld von Jobcentern, in dem sie Praktikas organisieren, in denen Menschen, die Jobs suchen, unbezahlt für Firmen arbeiten. Untersuchungen ergaben, dass jeder Mensch nur zwei Stunden am Tag arbeiten müsste, um die Existenz der Gesellschaft und seinen Lebensunterhalt abzusichern. Jeder könnte in der übrigen Zeit selbst bestimmt arbeiten. Das heißt doch wir müssen eigentlich jetzt die ganze Gesellschaft von Wachstum auf Nachhaltigkeit umstellen wenn wir überleben wollen. Die Gesellschaft hat sich in eine falsche Wachstums-Ideologie verrannt, in ein reines Kommerzialisierungsdenken und nimmt nur noch selektiv wahr.

Jobvermittler: Es gibt wegen den Gesetzen draußen ausreichend Jobs für Rechtsanwälte.

Karl: Es ist beruhigend, das zu wissen. Was bedeutet denn das Wort Arbeitsgelegenheiten da im Text?

Jobvermittler: Das sind Tests, ob sie arbeitswillig sind. Fragen sie beim nächsten Mal in der Leistungsabteilung nach. Es gibt Umstrukturierungen. Sie werden einem anderen Arbeitsvermittler zugeteilt werden. Ich würde mich aber freuen, falls sie gelegentlich ihren Kopf in mein Zimmer stecken und mich informieren, wie ihre Geschichte weiter gegangen ist.

Karl: Wie meine Geschichte weitergeht kann ich ihnen jetzt schon verraten. Ist es nicht so, dass wenn wir einen Raum wirklich bewohnen, wir auch den Schlüssel zu unserem wahrem Selbst in der Hand halten? Diese Agentur, zu der ich jetzt gehe, bietet Menschen Räume, die so optimal auf ihre wahren Bedürfnisse zugeschnitten sind, dass sie anfangen Gedichte zu schreiben:

Aufgeschlagen der Museumsführer / Tage der Vergangenheit /Heißen alle Überschriften hier / Ein weißer Knabe - schon Statur / Führt durchs als Kuriosum angelegte/ Allen zugängliche Verzeichnis / Früher, sagt er, bettelten hier am Eingang die Journalisten / Wie stark fühlt sich die politische Klasse der Freiheit der Individuen verpflichtet / Darüber diskutierten sie nie / Die Augen, dieses Zubehör / Linsen ohne Position / Im Planetarium mit Steckern und Pfeilern / Die stärker leuchten als die Sterne / Leben: Nichts als eine Ansammlung von Massangaben mehr /Halt mich fest, sagt einer, dem seine Natur, vor aller Augen - zur Behauptung wird /und tastet nach den Griffen, die in die Wände eingelassen sind /Da fahren Vorhänge auf, Schubladen, Regale / Und die Dinge glitzern im illusorischen Gewitter dieser Inszenierung hier / Zwischen uns Unbekannten / Die wir erzeugt haben, mit Hilfe jenes Programms zur Addition vergangener Erfahrungen

Karl verlässt das Büro. Auf dem Flur bleibt er vor einem Fenster stehen und schaut in den Himmel.

Karl: Was passiert mit mir?


Siebzehnte Szene Innen Nacht

KLEINER VORTRAGSRAUM. MENSCHEN GEHEN AUS DEM RAUM.

Offenbar ist der Vortrag gerade beendet worden. Solvey, Gerd, Melanie und Obo sind noch geblieben und räumen auf, nehmen Bilder von den Wänden ab, fegen, etc.

Solvey : Fourier sah schon 1836 den Wandel von der Selbstversorgung zur Arbeitsteilung. Da das erste Naturrecht – das Recht des Jagens, des Fischens, des Sammelns, des Weidens – in der Zivilisation verloren gegangen sei, meinte er, muss diese für eine Entschädigung sorgen. Fourier ist auch der Vater des Begriffes Feminismus. Er beschäftigte sich intensiv mit der Gleichstellung von Mann und Frau. In seinem Werk arbeitete er seine Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen aus. Davon waren dann viele angeregt. John Stuart Mill übernahm für sein Hauptwerk zur politischen Ökonomie viele Gandanken von Fourier. Breton schrieb 1947 seine Ode für Charles Fourier. Und Walter Benjamin meinte einer der großen Verdienste Fouriers sei es gewesen, die Dimension des Spiels in die Arbeit eingeführt zu haben, die nicht mehr länger dann ihre Wurzel in der Ausbeutung hätte.

Obo : Warum strebt der Lohn, trotz vermehrter Produktivkraft, nach einem Minimum, das nur zum bloßen Lebensunterhalt ausreicht? Die Menschen, denen ich hier begegne, scheinen sich nicht mehr über Statussymbole oder allgemeine Lebensstandards, sondern über völlig individuelle Ziele von Lebensqualität zu definieren. Ja, Mann: Du musst die Vorstellungen die du hast sprengen, um das unbegrenzte Bewusstsein zu finden, das willst du doch mit deinem Herzen sagen. Solvey? Nur wenn man über jeglichen Glauben oder Unglauben hinausgeht, wenn man das Unechte am Glauben sowie an der Gegenreaktion erkennt, glaubt man an keine Autorität mehr.

Gerd : Stell dir vor, du erlebst ein Wunder und du merkst es nicht, weil du nicht daran glaubst. Ich hab mal ein Wunder erlebt. Da stand ich nachts mit einer Freundin herum und diese Freundin holte aus ihrer Tasche einen großen altmodischen Bildrahmen mit dem Atelierbild ihres Urgrossvaters drauf. So mit Goldschrift unten und auf dicker Pappe. Und bei diesem Mann erkannte ich das gleiche Lächeln wie in ihrem Gesicht.Glaubst du an Wunder Obo ?

Obo : Natürlich, Mann. Entweder alles ist ein Wunder oder gar nichts.

Solvey : Obo, du jedenfalls bist das größte Wunder.

Obo : Ich mag die Spinner nicht, die sich für was besonderes halten. Wunder sind nicht wichtig. Wichtig ist nur, wie du deinem Nächsten gegenübertrittst.

Gerd : Das Wunder... Manchmal sehe ich so krank aus als wäre ich bereits gestorben. Muss was mit meinem Alter sein. Vermutlich war ich doch so etwas wie ein drogenabhängiger Zuhälter, Exsträfling. Jedenfalls auf einer äußerst seltsamen Art von Spezialfreigang. Ja, mit euch über die Freiheit von Körper, Geist und Denken reden. Sich mit nichts zu identifizieren. Soweit ist es nun. Dann erzählte ich mir von den Bäumen am Kinderstand von Heiligendamm. Dahinter der Gespensterwald. Von frühesten Kindheitserinnerungen. Jedesmal wenn wir mit dem Auto durch ein Waldstück fuhren war es da, dieses Gewahrsein. Alles hielt plötzlich in meinem Kopf an, während wir in unserem Auto weitergleiteten. Dies wäre das ideale Fernsehen: Sinnlich und zum freien Wahrnehmen anregend. Alle Gedanken sind wahr, wobei sie auch nicht wahr sind. Nur so, mit der Natur, ist es möglich zu beobachten wie die Inszenierung um einen herum sich selbst inszeniert. Anstatt bloß zususehen, wie die eine Fiktion immer die andere erzeugt. Was sie dann auch noch für Realität halten. Oder zumindest für das, was sich einem Publikum, welches etwa geprägt ist von einer liberale oder konservative Ästhetik, als solche verkaufen lässt.

Mehr gibt es nicht zu sagen: Alles leuchtet zu einem Sehblitz auf und das ganze Leben blüht, unwiederbringlich. Sämtliche Erinnerungen beziehen sich aufeinander und sämtliche Eindrücke bezeugen jenen Sinn, der sich unbegrenzt ausdehnt in Raum und Zeit. Dieser ewige Moment löscht Geschichte und schenkt das Leben als Essenz. Wenn du wiederstrebst, oder sonstwie reagierst, verlierst du es wieder. Was bleibt ist nichts als eine Kunst des gegenseitigen respektvollen Wahrnehmens. Das Geschaute war nur von der Erinnerung begrenzt. Ich hänge im Geschauten und alles gehorcht musikalischen Gesetzen in mir. Eine kindliche Dankbarkeit ergreift mich an allem teilhaben zu können. Bin nur noch getragen von dem unerschütterlichen Anspruch die Gesammtheit des Lebens, mit seiner Schönheit und seinem Glanz, darzustellen.


Achtzehnte Szene Außen Nacht

STRASSENRAND

Ein älterer Mann steht am Straßenrand und hält sich an einem dicken Baumstumpf fest, der genau auf der Höhe seiner Brust durchgesägt wurde. Obo schaut ihn an.

(Solveys Stimme aus dem Off) : Obo liebt es von Zeit zu Zeit die Treppen zur Unterwelt herabzusteigen. Er liebt den Geruch dieser Schattenwelt, die Unnahbarkeit der Menschen in dieser Umgebung. Entfernung existiert hier nicht. Zeit auch nicht. Alle sind auf Reisen vom Dunkeln ans Licht. Heute aber ist ein besonderer Tag für ihn. Denn er gesteht sich ein, dass ihm der Weg hinab noch nie so verlockend und unerforschlich zugleich erschien ist. Und das, obwohl alles den exakt gleichen Anblick wie immer liefert.

Ein sehr teuer gekleidetes Mädchen, mit verwischten Lidschatten spricht ihn an.

Das Mädchen : Woher kommen sie? Haben sie etwas Geld für mich.

Obo : (Stellt fest er hat gar kein Geld mehr in den Taschen. Etwas durcheinander redet er anscheinend einfach drauf los, was ihm gerade so durch den Kopf geht.) Ich habe eine plötzliche Eingebung dich betreffend. Du hast so eine Art mir zuzuflüstern. Sieh, wie der blinde Bettler da tanzt, der Krüppel singt...


Neunzehnte Szene Innen Nacht

CAMILLA LIEGT IN IHREM BETT MIT OFFENEN AUGEN. MELANIE SCHLÄFT IN DER KÜCHE, KOPF AUF DEM TISCH.

Die Lampe neben ihr ist eingeschaltet. Irgendwo, lang und ausdauernd klingelt ein Telefon. Melanie wird nicht gleich wach, läuft dann blind in den dunklen Flur und zieht aus ihrer Tasche, die in der Garderobe hängt, ihr Handy.

Melanie : Du, ist was los? (Sie hört einen Moment zu) Du darfst. Gut. Du hast ja fast recht. Rechts, hundert Meter von wo du stehst. Haus Nummer 1. Warte unten.

Sie geht zu Camilla ins Zimmer.

Melanie : Sind sie wach geworden durch den Anruf? Entschuldigen sie bitte. Ich muss kurz mal herunter.

In der Küche zieht sie die Schuhe an. Auf dem Küchentisch liegt ein Papier auf dem die Anfangszeilen eines Gedichtes notiert wurden, die sie verwundert mit leiser Stimme ließt, als wären es die Worte einer seltsamen Beleidigung :

"O schwör, dem Märchen nur zu glauben,

treu dem Ersonnenen allein,

der Seele nie ihr Reich zu rauben;

schwör, nie soll sie gefangen sein.

Der türkische Junge, Mustaffa, den Solvey in der Bahn angesehen hatte, wartet draußen vor der Tür. Er spielt mit einem Knopf an seiner Jacke, der fast abgerissen an einem Faden hängt. Die Tür geht auf, er grüsst Melanie, will ins Treppenhaus, sie lässt ihn nicht durch.

Mustaffa : Kann ich nicht hereinkommen?

Melanie : Ich wohne nicht hier.

Mustaffa : Und was machst du hier?

Melanie : Ich hab mich vielleicht verlaufen…

Mustaffa : Bist du hier bei einem Typ? (Durch das Glas der Eingangstür fällt der Schatten eines Eisenmusters auf ihre Gesichter.)

Melanie : Ganz schön mutig dich dann kurz hier so zu empfangen.

Ich arbeite hier. Ich kann jetzt nicht länger, ich ruf dich Morgen wieder an. (Sie küsst ihn.)

Mustaffa : Wir haben doch aber wenigstens einen Moment. Ich habe auf dich gewartet. (Er fasst sie bei ihren Ellenbogen, aber sie entzieht sich ihm und entschlüpft auch dem Schattenwurf, der, wie wir jetzt erkennen können, von einer Strassenlaterne direkt vor dem Haus erzeugt wird.) Wenn du willst warte ich die ganze Nacht hier.. (Das Licht im Flur geht aus.)

Melanie : Bitte nicht. Machs gut, auf bald.

Melanie kommt in die Wohnung zurück. Camilla ruft nach ihr. Melanie geht zu ihr und stellt ein Knie auf das Bett, damit sie bequem den schweren Körper umfassen und auf die andere Seite wenden kann.

Camilla : Es ist idiotisch: Bevor mir das passiert ist vor einigen Tagen habe ich zu Gott gesagt: Lass mich wieder gesund werden, dann mach ich auch täglich meine Bewegungsübungen. Und gleich bei meiner ersten Übung bin ich hingefallen.

Melanie : Alles Entscheidungen, die sich als Irrtum erweisen.

Camilla : Mein Vater hatte sich in so vielem geirrt. Mein Leben lang habe ich damit zu tun gehabt.

Melanie : Ja, unsere Väter bauten an eine Welt die nicht überleben konnte.

Camilla : Sie wollten eine Welt, die sich durch den Verstand kontrollieren lässt und in der Gefühle unterdrückt werden.

Melanie : Was kann jeder Einzelne nun dazu beitragen um sich mit anderen Menschen sinnvoll auszutauschen. Darum geht es. Die Zeit selbst öffnet sich und erlaubt es jetzt den Menschen verschiedene Bedeutungen innerhalb einzelner bewusst erlebter Momente zu entdecken...


Zwanzigste Szene Innen Tag

REINE MIT ZWEI FREUNDINNEN UNTER DEM GLASDACH EINER EINKAUFSPASSAGE

Reine : Du kannst bei dem Game auch alles bunt einstellen. Es macht doch keinen Sinn Wonderworld Nine einfarbig zu spielen.

Shandri : Das denkt etwas schneller voraus als du, dieses Spiel. Es zeigt mir selbst wie man es am besten spielt.

Reine : Ja, so wie du damals bei Frau Schröder, als du dir diesen drei Meter hohen Turm aus Pappe aufgebaut hast und aus Langeweile einfach mitten durch ihn hindurch gerannt bist.

Josephine : So was machst du aus Langeweile? Wenn mir langweilig ist räume ich manchmal die Küche bei dem Freund meiner Mutter auf.

Reine : Schläfst du nicht lieber so lange bis die Erwachsenen das selber gemacht haben ?

Josephine : Nein, mein Zimmer liegt so... Also am Morgen ist das Licht da so stark. Es fällt so hinein, es ist dann ganz unmöglich zu schlafen.

Reine : (zu Shandri) Gib doch mal her, das Spiel. Ich stell dir mal ne andere Farbe ein. Am besten ist violett, aber das gibt es nicht bei diesem Ding hier. Ja was machen wir da…

Shandri : Frag doch einfach das Spiel. Mit jeder Information die du da hinein fütterst tust du was Gutes. Du nährst das Vehikel. Das Spiel sagt auf deine Frage... warte da ist die Antwort: Stell dir einfach die Ziele in violett vor. Der Magie des freien Willens sind doch keine Grenzen gesetzt, abgesehen vom mangelnden Vertrauen in deine eigene Kraft. Dieses Game ist ein idealer Begleiter, siehst du. Es bereitet dich vor auf die Begegnung mit dir selbst. Es zeigt dir auch von dir besonders häufig benutzte Wortkombinationen an. In solchen verstecken sich nämlich Runderneuerungen von unbewussten Programm Mustern im Gehirn des Benutzers...

(Reine schaut Shandri ins Gesicht, als wolle sie ihr etwas sagen.)

Shandri : Sag jetzt nichts, ich spüre was in dir vor sich geht. Gute Technik trifft auf degenerierte Kultur.

Alle drei lachen. Plötzlich verstummt Reine und zeigt auf etwas. Wir sehen wie direkt neben ihnen eine merkwürdige doppelte Skulptur, offenbar von ihnen unbemerkt, aufgestellt wurde: Ein alter Mann hat an einer Leine ein kleines Kind. Mann und Kind sehen ganz real aus, nur das sie sich nicht bewegen und etwas zu exakt hergerichtet sind, um nicht eher Teil einer Kunst-Aktion zu sein.

Reine : Ein Problem?

Die Kinder schauen sich gemeinsam um, winken, nur um die Aufmerksamkeit der Herumstehenden auf sich zu ziehen. Aber nur eine einzig Person in Sichtweite scheint sie wirklich wahr zu nehmen. Ein Fotograf. Er steht in einiger Entfernung von den Kindern an der Außenwand des bunkerhaften Shopping -Centers. Regen beginnt anscheinend zu fallen und er versucht seine Kamera mit einem Tuch zu schützen, welches er über sein Stativ wirft. Er nimmt sein so abgedecktes Stativ und stellt es ein paar Meter weiter wieder auf. Eine Frau geht so langsam an ihm vorbei, dass er ihr Gesicht beobachten kann. Der Fotograf lächelt ihr entgegen. Wir können ihr Gesicht nicht erkennen, weil das Licht an einer Scheibe vor ihr zu stark bricht.


Einundzwanzigste Szene Innen Tag

GERD BEI SOLVEY

Gerd steigt aus dem Bett und geht in die Küche. Er kommt mit einem Glas Milch zurück. Während er trinkt entdeckt er auf dem Bauch der liegenden Solvey, die wenig zugedeckt in der Morgensonne schläft, die Tätowierung einer Schlange. Gerd reißt die Decke von dem Nachtisch und ritzt dann einige Buchstaben auf die Tischplatte mit einer herumliegenden Rasierklinge. Dann geht er auf die Knie, stellt den Tisch auf die Kante und betrachtet sein Kunstwerk. Er leckt seine Finger und dann seine Lippen, um den Holzstaub loszuwerden. Er steht mitten im Raum, als wäre er blind.

Gerd : Kennst du eigentlich Misty?

Solvey : (Sie wurde von der Ansprache aufgeweckt und ist noch ganz verträumt) Misty? (Jetzt plötzlich ganz wach, weil sie sieht was Gerd mit ihrem Nachtisch angestellt hat.) Wer soll denn das sein? Komm her, leg dich wieder zu mir. Ich mag es nackt mit dir herum zu liegen. Dein Geruch macht mich hungrig und auch ein wenig traurig.

Gerd : Die Schlange ist übrigens ein doppeltes Symbol. Sie steht für beides, für Gut und Böse. Hast du Durst?

(Er reicht ihr das Glas, das sie mit einem Schluck austrinkt, wie am verdursten. Dann wischt sie sich mit der einer Hand den Mund ab, mit der anderen streichelt sie seinen Adamsapfel. Ihre Gesichter sind jetzt ganz nah beieinander. Er beugt sich über sie, ist jetzt auf allen vieren und zieht Solveys Körper an sich. Er schüttelt seine Kopf, versucht nicht zu lachen und zieht Solveys dann noch näher an sich heran.)

Solvey : Lach nicht. Das ist gar nicht komisch. Weißt du eigentlich schon... deine Augen sind unterschiedlich... Das Größere, gute, liegt weiter vorne, und das Kleine, böse, schaut mich aus der Tiefe deines Gesichtes an. (Sie muss jetzt selbst lachen.)

Gerd : Hey, hör auf so zu reden, davon kann man eine Sehstörung bekommen! Stellen wir uns einen Menschen vor, der von dem Gedanken erfüllt ist, dass seine Augen verschieden sehen. Natürlich wird er Recht haben, doch gerade durch diesen Gedanken kann er seine Sehkraft zerstören. Die Schärfe des Bildes hängt von der Verschiedenheit der Augen ab. (Er kneift die Augen abwechselnd zu, wie um herauszufinden ob er noch klar sehen kann. Um herauszufinden ob Solvey vielleicht recht hat mit ihrer Bemerkung.)

Solvey : Baby, hast du schon mal daran gedacht wann du begonnen hast mich zu beneiden. Das muss ewig her sein. Der Garten Eden steht für den easy way of living. Die Schlange steht für den Weg der Dualität, der hinauf führt ans Licht. Der mittlere Weg zwischen den Gegensätzen.

Gerd : Als Adam und Eva den Garten verließen taten sie es bewusst, den Komfort des easy way aufgebend für eine ungewisse und herausfordernde Zukunft. Es war kein Verzweiflungsakt. Das Böse ist nichts außerhalb von uns. Es ist eine beratende Institution für unser Bewusstsein, mitten in unseren Köpfen. Sie möchte immer noch mehr für uns verlangen, während es eigentlich unsere Aufgabe ist, diesem Verlangen nach mehr, mehr, mehr zu wiederstehen und bedingungslos zu teilen.

Solvey : Du meinst: Es war gar keine Vertreibung?

Sie steigt aus dem Bett und geht zum Fenster, dort gießt sie mit dem wenigen Wasser, das noch in der Gießkanne ist, die auf dem Fensterbrett steht, die Pflanzen. Jede bekommt ein paar Tropfen.

Gerd geht in den Flur. Er öffnet eine angelehnte Tür, durch die er ein leichtes Schnarchen hört. In dem Zimmer findet er Reine, der angelehnt an einem riesigen Stoff-Saurier eingeschlafen ist. In der Ecke des Zimmer läuft ein Fernseher. Eine Ratgebersendung. Gerd setzt sich neben Reine und hört kurz dem Moderator zu, der gerade erklärt: "Aufs Gewebe kommt es an. Die Zelle kann auch einige Zeit alleine überleben, aber ganz ohne etwas Blutzufuhr schafft sie es dann nicht. Solche fast schon paranormalen Phänomene kann man als Abstrusitäten bezeichnen. Aber sie beinhalten genauso ein Stück geheimnisvolle Weisheit. Wenn man Zufälle erklären will, ist dies meist nur ein Zeichen von Faulheit oder Hilflosigkeit, oder eine instinktive Abwehrreaktion aus Angst davor irgendein wissenschaftliches Dogma könnte bedroht sein..."

Gerd schaltet den Fernseher aus, nimmt Reine in den Arm und legt ihn auf sein Bett. Während er ihn zudeckt sagt er zu ihm: Träume süß.


Zweiundzwanzigste Szene Innen – Außen Tag

OBO UND KARL IN EINER KLEINEN BAR IN DER DURCHGANGSHALLE EINES EINKAUFZENTRUMS

Leuchtende Speisekarten sind eingelassen in den Tischen an denen die beiden Männer sitzen. Sie beobachten eine Bedienung. Vor ihnen befindet sich eine offene Strasse mit einer Bushaltestelle aus Glas und mit Werbematerial dekoriert. An der einen Stelle der Haltestelle, eingelassen in einen Leuchtkasten, ist ein Poster mit einem Landschaftsgemälde.

Karl : Schwer zu sagen ob die von hier stammt und auf fremdländisch macht, oder umgekehrt.

Obo : Ihre geschulte Geduld bei den Vorgängen hinter dem Tresen führt jedenfalls dazu, dass sich deine Aufmerksamkeit immer wieder weg von unserem Gespräch verlagert. Weist du, was mich in letzter Zeit beschäftigt: Zu beobachten inwiefern Gedanken unlinear sind. Hast du bemerkt was eben mit uns beiden passiert ist, wie wir die Frau da so anstarren. Das ist es was ich meine. So etwas wäre schwer in einem Film darzustellen. Ich hatte mal eine Idee für so einen Film, aber einige Szenen dieses Films sind mir noch nicht deutlich genug vor Augen. Ich bin noch dabei zu lernen, die Wirklichkeit genauer zu beobachten.

Lerne wissend oder denkend sehen. Gesehen wird eigentlich nur, was im Licht des Bewusstseins ist. Die Vollmacht des inneren Sehens, inneren Bildes. Die Grundfühlung...

Karl : Nun, ich habe mal so etwas in der Art in einem Film gesehen. Da sitzen drei Frauen an einem Tisch, ja, und die ganze Zeit über hören wir ein Geräusch und weder die Frauen, noch die Zuschauer wissen woher das Geräusch eigentlich kommt. Aber alle scheinen es irgendwie zu bemerken.


Auch wir hören jetzt ein solches Geräusch. Wir sehen, dass es die Gürtelschnalle einer Frau ist, die neben ihnen sitzt, die pendelnd an eine Verstrebung schlägt, die das Geräusch erzeugt. Nun stößt sie ihren Gürtel erneut an.

Die Frau hinter der Bar, Misty, um die fünfzig, doch sehr jung geblieben, als hätte sie es irgendwie geschafft in ihren Mädchenträumen fortzuleben, räumt schlafwandlerisch etwas vom Tresen.

Sie geht zum tropfenden Wasserhahn herüber und schließt ihn. Auf einmal bleibt sie ganz still stehen und blickt auf das Bild der Landschaft im Leuchtkasten der Haltestelle. Es ist dasselbe Bild wie auf der Postkarte in der Ersten Szene.

Ihr scheint dieses Bild irgendwie bekannt vorzukommen. Sie scheint irgendetwas an diesem Bild zu entdecken, so als würde sie gerade zum ersten Mal begreifen was es eigentlich darstellt. Sie geht aus der Bar heraus auf die Strasse und bleibt ganz nah vor dem Bild stehen. Während sie die Landschaft auf dem Bild betrachtet ruft ihr eine andere Frau, die auch aus der Bar getreten ist, hinterher.

Die Frau aus der Bar : Misty, willst du da draußen jetzt Wurzeln schlagen? Hier warten Kunden!

Misty: Schau mal, da hinten ist Ramon.

Die Frau aus der Bar : Renn ihm nur nicht hinterher. Du weißt doch wohin das führt, komm wieder herein.

Wir sehen wie im Hintergrund, auf der anderen Straßenseite, Ramon langsam die Strasse entlanggeht. Der Schnitt wartet und kommt erst in dem Moment, wo Ramon aus Sichtweite verschwunden ist...


Dreiundzwanzigste Szene Innen –Nacht

MELANIE IN OBOS WOHNUNG

Melanie wacht neben Obo auf, der schon wach liegt.

Melanie : Ich hatte einen ganz ungewöhnlichen Traum. Kennst du Misty?

Obo : Ist das nicht dieses neue Spiel, in der Art von Feedback Cycle, oder wie das heißt, so was mit einer virtuellen Person, das enorm gut sich verkauft. „Misty entzaubert dich und zeigt dir was in dir steckt. Der entzauberte Gott in jedermann.“ (Er spiel jetzt, als wäre er diese seltsame Frau:) Du wolltest wissen wer ich eigentlich bin. Ich gab dir eine Antwort. Ein Service Element. Aber ich bin immer auch noch Misty- Grrrl. Die Seele ist die Hardware, verstehst du. Die Hardware zählt. Die Gewohnheiten, die Erinnerungen, das Gehirn und der Körper sind bloß austauschbare Software.

(Nun wieder als Obo:) Das ist doch so ungefähr das Neueste, nicht wahr, meinst du das vielleicht? Kaum auf dem Markt, ist es schon in aller Munde und, stell dir vor, dass ganze ohne Werbekampagne dahinter.

Melanie : Kann es seien... Dieses Programm hat vielleicht Zugang zu unseren Träumen, auch dann wenn wir es noch gar nicht gekauft und bei uns eingespeist haben...

Obo : Du meinst es funktioniert wie so ein Kultobjekt bei uns in Afrika. Ein Gegenstand der mit Gedankenenergie aufgeladen wurde und Kontakt mit den Dorfbewohnern aufnimmt, um sie von ihren Wahnvorstellungen zu befreien…

Melanie : Du wachst entzaubert aus deinen Träumen auf und erkennst, dass du selber der Star bist, nicht irgend jemand anderes, den du die ganze Zeit versuchst hast nachzuahmen, oder anzubeten.

Obo : Ich höre dir zu.

Melanie : So etwas in der Art habe ich eben im Traum erlebt, eine Entzauberung.

Obo: Ich hab mal jemanden, den ich einfach nicht leiden konnte, im Traum eine ins Gesicht geschlagen, und das blieb mir im Gedächtnis, weil ich sonst eigentlich solche Sachen nicht mache. Und am nächsten Tag treffe ich den und plötzlich scheint der mir eigentlich ganz sympathisch.

Melanie : Sind wir nicht alle mehr oder weniger begrenzt durch die Bilder in unserem Denken, die auch in Form von Träumen immer wieder aufsteigen?

Obo : (Er steigt aus dem Bett und steht mitten im Raum wie eine Skulptur.) Jeder strebt eigentlich dahin so zu leben, das sich seine Träume immer mehr verdichten und der von den Träumen konditionierte Geist mit seiner eigenen Konditionierung konfrontiert wird. (Er geht zu seinem Bücherregal und zieht einen Band heraus.) Goethe hat das exemplarisch für sich und eine ganze Generation gemacht, als er den „Werther“ dichtete. Erst nach diesem Ausleben der Gefühle bis zum Exzess konnte dann Friedrich Schiller seine Gedanken über das freiheitliche Tun in Freude formulieren. So greift auch Menschheitsgeschichtlich eins ins andere.(Er wirft ihr das Buch zu Füssen.)

Melanie (Sie schiebt das Buch zur Seite.) Jetzt aber sind wir im Zeitalter des Bewusstseins angelangt. Jeder hat jetzt tatsächlich an seiner eigenen Befreiung zu arbeiten, oder er verfällt immer mehr automatisch dem Zynismus. Unsere Wahrnehmungen schärfen sich. Mir fällt erst jetzt diese Pflanze auf, die du da auf dem Fensterbrett zu stehen hast. Und sie erscheint mir nun als das perfekte Portrait von dir. Selbstverständlich muss so eine Pflanze bei dir im Zimmer stehen. ( Sie zeigt auf eine wuchernde Pflanze vor dem Fenster.)

Obo : Ja, aber so ist es mit allem, wenn man anfängt seine Sinne wirklich zu benutzen und man aufmerksamer wird. Alles bekommt einen Sinn in Bezug auf etwas, von dem man selber nur ein Teil ist. Aber was hatte nun dein Traum eigentlich mit Misty zu tun ?

Melanie : Du kennst doch diese Shows wo man anrufen kann und plötzlich auf Sendung ist. Im Traum war Misty bei mir in der Sendung. Ich wusste nicht wer sie ist, sie hatte aber eine Botschaft für mich. Nun, das seltsamste an dem Traum war, dass ich diese Frau schon einmal vor Jahren gesehen habe. Sie kam mir bei einem Standspaziergang entgegen.

(Wir sehen wie ihr eine Frau in einem weißen Kittel über ihrem Badeanzug, die tatsächlich ähnlich wirkt wie Misty, entgegenkommt.)

Obo

macht eine Geste in Melanies Richtung. Dazu beginnen wir einen Teil aus der dritten Liturgie da la présence divine (Dieu présent en toutes choses) von Messiaen zu hören, der auch noch, sehr leise, der folgenden Szene unterliegt.


Vierundzwanzigste Szene Innen-Außen Tag


MISTY IN EINER GALERIE ALTER MEISTER


Misty: (Ihre Stimme kommt aus dem Off) Ich bemerkte im hellen Licht ein Gemälde, das ich noch nie gesehen hatte. Es war das Portrait eines jungen, fast schon zur Frau gereiften Mädchens. Ich warf einen raschen Blick auf das Bild und schloss die Augen. Nach einigen Momenten, die ich damit zubrachte meinen Geist zu beruhigen und nachzudenken, öffnete ich die Augen wieder und nach dem ich mich darüber vergewissert hatte, dass mein Blick mich nicht getäuscht hatte, ging ich weiter.


Misty geht an den Gemälden entlang zu einer großen Fensterscheibe. Sie schaut durch diese Scheibe hinaus auf die Strasse vor dem Museum. Ihr Blick betrachtet diese alltägliche Szene, die sich vor ihr jetzt auftut, als sei sie ein weiteres Gemälde, vielleicht gemalt von ihr. Auf einmal sieht sie Melanie im Hintergrund die Strasse entlanglaufen und dann auf sich zukommen. Melanie steht jetzt direkt vor ihr, auf der anderen Seite der Glasscheibe.



Melanie : (Ihre Stimme kommt aus dem Off) Manchmal denke ich mir Geschichten von Leuten aus, denen ich so begegne. Dann bemerke ich, dass ich vielleicht etwas über sie weiß, was sie selbst nicht wissen.


Wir sehen nun, von außen, Melanie vor der Scheibe stehen. Sie scheint durch das Glas nicht richtig hindurch schauen zu können. Ja, sie scheint Misty gar nicht wirklich zu bemerken, sondern nur die Gemälde in den Räumen der Galerie, unter denen auch das Bild von der Landschaft auf der Postkarte zu finden ist. Bei diesem verweilt ihr Blick abschließend, als hätte sie gefunden was sie eigentlich gesucht hat.


Misty : (Ihre Stimme aus dem Off ) Ich bemerkte nun, dass ich Zugang zu einer Art Wissen hatte, das mir bislang unzugänglich war. Es wurde mir von nun an immer deutlicher, das es keinen Unterschied zwischen mir und anderen Menschen gibt.




Fünfundzwanzigste Szene Innen Nacht Außen Tag


EINIGE MENSCHEN IN EINEM VORTRAGSRAUM / STRASSE

Stille, dann bewegte Bilder von Menschen verschiedener Nationalität an unterschiedlichen Orten der Welt auf einer Leinwand bei einem Vortrag. Die Bilder kommen immer schneller hintereinander und der Bilderreigen löst sich auf in einer Computersequenz, in der auch Bilder vom Vortragsraum mit auftauchen, die Details zeigen von Menschen aus dem Publikum. Nun ein Schriftzug auf dem steht: Oft erblicken wir etwas, noch bevor wir es in einen größeren Zusammenhang einordnen und so einen Sinn geben können …

Wir sehen jetzt das Bild von einer Schlange, dann das einer Menschenschlange, aus der Vogelperspektive. Vor dem Vortragsraum steht jetzt diejenige, die auf dem Bild als Letzte in der Schlange stand. Es ist Ruth. Die Musik von Messiaen bricht ab. Ruth schaut auf die Uhr: Sie kann sich nicht entscheiden, ob sie noch bleiben soll. Sie hört mit an, was die Leute vor, und auch hinter ihr, so reden.

Älterer Mann : Alle warten sie darauf das es weiter geht. Alle denken sie haben keine Zeit. (zu Ruth) Keine Zeit Kinder in die Welt zu setzten. Keine Zeit sich um Kinder zu kümmern.

Ältere Dame : Die haben doch pure Angst, die jungen Menschen, Angst es könnte für sie nicht mehr reichen. Ja, die im Islam haben sich an das Gebot gehalten keine Zinswirtschaft zu etablieren.

Älterer Mann : Die Deutschen sind doch auch die mit den meisten Versicherungen in der Welt. Schauen sie sich doch nur mal an wie wir alle hier versichert sind. Die, die es sich leisten können versichern sich doch gleich drei-vierfach auf alles. Sie leben in Angst in mitten ihrer scheinbar sicheren und heilen Welt. Nehmen wir überhaupt wahr wie wir leben? Gerade das Gewöhnlichste ist das Fantastische. Unsere Bewegungen mit dem Waschlappen in der Badewanne, dazu die Geräusche des Wassers, das Tropfen von unserer Stirn... Wenn wir nur genau genug hinsehen, hinhören würden, könnten wir es erkennen: Welche Möglichkeiten in der bewussten Entscheidung jeden Momentes liegen, sobald wir frei sind von jeder Gewohnheit. Wirklich frei sind, das zu tun, was wir eigentlich wirklich tuen wollen. Wenn wir nur erst einmal wüssten, was wir wirklich tuen wollen... Wiederholungen und Abweichungen in den Tagesabläufen schälen so etwas wie die Abstraktion von Erfahrung heraus. Die kleinen Variationen selbst werden zu Handlung, Geschichte. Nein, die Geschichte entsteht vor unseren Augen aus dem Zusammentreffen dieser Abweichungen. Und auf einmal wird uns klar: Geschichte kann nur aus den Abweichungen entstehen, wir sehen es normalerweise nur nicht. Und ganz undeutlich, aber doch so tief wie nur möglich, kommt in uns folgende Ahnung auf: Ist diese Frau, die wir dort beobachten, nicht nur so gefangen in einem ritualisierten Tagesablauf, weil sie genau an dem Punkt zwischen den weiblichen Standart-Rollen feststeckt: Halb Hure, halb Mutter? Und stecken wir nicht alle jederzeit zwischen zwei Wegen fest? Aber das müsste nicht so sein. Die wirtschaftliche Tätigkeit des Menschen ist in der Regel in seinen Sozialbeziehungen eingebettet. Sein Tun gilt nicht der Sicherung seines individuellen Interesses an materiellen Besitz, sondern der Sicherung seines gesellschaftlichen Ranges, seiner gesellschaftlichen Ansprüche und Wertvorstellungen.

Hinter Ruth beginnen sie jetzt auch zu reden. Es handelt sich um zwei Männer um die vierzig und eine Frau um die dreißig.

Mann mit Hund : Der redet ja wie Live aus dem Devachan. Ich hab es übrigens schon über das Internet versucht, aber nach einer Stunde wieder aufgegeben, weil ich einfach nicht durchkam.

Frau mit Sonnenbrille : Das ging mir auch so. Dann habe ich diese Infonummer gewählt, die dort angezeigt war und da wurde mir gesagt, dass das Kontingent, das über das Internet verkauft wird nicht mehr da sei und man jetzt hierher kommen müsse.

Mann auf Rollerblades : Freunde, freuen sie sich doch, sonst wären wir uns vielleicht nie begegnet. Ich rufe mal da vorne an und frage einfach, wie lange das noch dauern kann. (Er holt ein Handy hervor und spricht da hinein…) Ja, ich stehe hier am Ende der Schlange. Ja etwa, gut vielen Dank.

Ruth : Etwa? Sagen sie mal, das kann doch nicht sein. Da muss ich ja zwischendurch zu meiner Parkuhr, um nicht abgeschleppt zu werden.

Eine Gruppe Kinder, Reine ist auch dabei, rennt sehr schnell, wie ein Vogelschwarm, an ihnen vorbei. Solvey geht auf der Strasse, sieht sie an sich vorbeirennen, bleibt stehen und klettert dann über einen Zaun und betrachtet die in einer Reihe hinter einander rennenden Kinder.

Solvey :(aus dem Off) Siehst du sie jetzt auch, Misty?

Misty : Ja, sie sind hier eben vorbei gerannt. Ich bin in deiner Nähe, Solvey. Ich stehe in einer Art Museum, du kannst mich jederzeit hier besuchen, wenn du nur willst.

Solvey : Misty, stehst du hinter dem Programm, das jetzt überall zu kaufen ist.

Misty : Was sagt dir deine Intuition?

Solvey : Es ist Betrug.

Misty : Es stammt von Kräften, die gegen uns gerichtet sind.

Solvey : Wie kann ich unterscheiden, wer mit dir Kontakt hat, oder wer nur den Botschaften von den kommerziellen Programmen folgt?

Misty : Nur an der Qualität der Botschaften kannst du mich erkennen, woran auch sonst! Alles kommt auf die Schulung des Unterscheidungsvermögens an. Finde noch genauer heraus, wer du selbst bist und du wirst meine Stimme ganz deutlich von alleine unterscheiden lernen. Einem äußeren Führer zu folgen ist immer ein Fluch.


Sechsundzwanzigste Szene Außen Tag

REINE IN EINEM PARK

Reine rennt nun alleine weiter. Er wird immer langsamer, dreht sich um und sieht das die anderen nicht mehr hinter ihm sind. Er wartet noch etwas und schaut ob sie aufholen und kommen. Aber nein, niemand kommt. Er bemerkt, dass er weit und breit alleine ist in diesem Park. Jetzt kommt er ganz langsam zu der Stelle, an der in der Ersten Szene Melanie und Karl ihre Begegnung mit der Kleinen Frau hatten.

Die Blätter der Bäume geraten unter einem Windstoß ins Rauschen. Er sieht sich genau um. Er betrachtet alles um sich herum völlig unvoreingenommen, das können wir an seinen Gesichtszügen erkennen. Die Natur drückt sich wie ein Stempel mit ihren Gedanken in ihn hinein…


Siebenundzwanzigste Szene Innen Nacht / Tag

MELANIE UND SOLVEY AUF EINER PARTY

Melanie trägt einen Armreifen mit glitzernden Steinen, der ihr immer vom Arm zu rutschen droht beim Tanzen, weil er ihr viel zu groß ist. Solvey beobachtet ihren Tanz, der zunehmend ein Kampf mit ihrem Armreifen ist. Beide lachen sich an.

Trance Session : Ein Mann legt sich unter eine von ihm errichtete Skulptur aus Schnüren. Von dieser Position aus blickt er auf die Gäste um ihn herum. Jemand beginnt in ein auf Hall und Echo eingestelltes Mikrofon zu singen. Jemand anderes spielt nun auf seiner Violine dazu. Nun setzt auch eine Trommel ein. Die Beiläufigkeit, mit der nach und nach alle gemeinsam im Raum beginnen an einer Komposition zu basteln, zeigt auf wie jeder sich selbst entdeckt im Wahrnehmen der anderen.

Nun setzten auch Klingeltöne und Stimmen von Anrufbeantwortern mit ein, von sprechenden Uhren und herumstehenden Bildschirmen und ergeben zusammen einen zusätzlichen Rhythmus.

Zwei sehr vornehm gekleidete Männer, die vor einer Wand stehen könnten fast das Publikum für das Ganze seien. Die Wand hinter den Männern ist über und über beklebt mit zerrissenen Werbeplakaten. Die Wand, in all ihrer Zerrissenheit, bildet einen starken Kontrast zu den adretten Männern.


Melanie : „Seid mal alle still. Ruhe mal.“

Musik, Geräusche und Gesang verstummen.

Licht fällt auf die beiden Männer vor der Wand.

Erster Mann : Die Zerstörung durch die Natur ist Teil dieses Kunstwerkes.

Zweiter Mann : Diese Kunst kann man nicht besitzen, sondern nur erfahren.

Erster Mann : Für mich geht diese Kunst sogar noch weiter : Sie ist so eine Suche… Dass ich mir sage, da ist eine andere Welt hinter der, die man so sieht. Und das ist eigentlich die interessantere oder wirklichere Welt.

Zweiter Mann : Die Löcher wurden gestopft mit irgendeinem Zeug. Alles wurde mit Make-Up übertüncht. Aber das Licht war so stark, dass du alle erkennen konntest. Du konntest den ganzen Schwindel plötzlich durchschauen.

Jemand von den Partygästen beginnt mit einer Handycam zu filmen. Black. Die leere Wohnung, sehr gut aufgeräumt. Alle Gäste sind gegangen. Auch sind alle Plakate von der Wand nun wirklich vollständig abgerissen worden und wir sehen wie eine glänzende Steinschicht darunter zum Vorschein gekommen ist.

Aber doch, eine Person scheint noch da zu sein und weiter zu filmen. Draußen vor den Fenstern wird es schon Tag.

Misty: (aus dem Off) Wenn du alle Erinnerungen fallen lässt, ist dein Geist plötzlich still und du spürst eine Energie, die stärker ist als alles was du ahntest. Identifiziere dich nicht mit dieser Energie, beobachte sie nur…


Achtundzwanzigste Szene Innen Tag / Außen Tag

IN EINEM AUSSTELLUNGSRAUM / Park

Solvey geht durch das Museum von dem aus Misty aus dem Fenster auf sie schaute. Sie bleibt vor einem Bild stehen.

Solvey : Irgendetwas hatte ich wieder erkannt, ohne genau darauf zu kommen was. Immerhin war es mir aufgefallen, es stach hervor aus den Details all der anderen Dinge und Gesichter auf den Bildern, an denen ich vorbei lief. Ich blieb stehen und beobachtete, was die Augen dieses Gesichtes in mir auslösten. Es war, als ob dieser Blick da mich wie aus der Ferne wahrnehme, meine Bewegungen verfolge, schon seit geraumer Zeit. Mich besser kannte, als ich mich selbst. Diese Augen hatten etwas in mir gesehen, was andere nicht sehen. Ich sah durch diese Augen die Beschränktheit meines Vorstellungsvermögens und im selben Moment erfuhr ich die Tatsache einer Welt jenseits dieser Beschränktheit.

Das Bild, vor dem sie stehen bleibt, ist ein Foto ihres eigenen Gesichtes.

Ein junger Student führt eine Gruppe durch das Museum und bleibt jetzt neben Solvey und dem Bild von ihr stehen. Er scheint Solvey gar nicht zu bemerken. Einige aus der Gruppe betrachten während er spricht Solvey, die anderen das Bild von ihr.

Der Student : Eine Rekonstruktion der Armory Show. 1913 hatte diese Ausstellung die Selbstzufriedenheit der amerikanischen Kunstwelt erschüttert. 1914 ging das neunzehnte Jahrhundert zu Ende und das zwanzigste Jahrhundert im September 2008. Schon ab dem Jahr 1987 haben verblüffende Fiktionen dieser Show für Aufsehen gesorgt. Das gleiche Konzept wurde immer wieder abgeändert. Die Werke wurden mit fiktiven Datierungen versehen. Es herrschte wieder eine regelrecht hysterische Selbstfindungsphase in der Kunstwelt. Hier sehen sie ein Bild eines unbekannten Fotografen. Achten sie einmal auf den Gesichtsausdruck der hier eingefangen ist. Dieser Fotograf möchte ihnen nicht das Bild eines Menschen zeigen, denn er weiß, das ein Geist, der mit Bildern beladen ist, nur leiden kann. Er möchte ihnen zeigen, wie sie sich ein Bild von einem Menschen machen, aufgrund ihrer Sehgewohnheiten. Er zeigt ihnen, wie unnütz ihre Ideen sind von dem, was Kunst ist. Genauso könnten sie eines Tages vor ihrem eigenen Bild stehen und es erkennen, als das was es ist: Als Konstruktion ohne jede Realität… Und dann wird offenbar, was es heißt wirklich in sein inneres Sein zu blicken.

Solvey : Darf ich sie mal unterbrechen. (Sie spricht jetzt weiter zur Gruppe.) Am Anfang spielten die Menschen Theater. Sie trugen Kostüme und sprachen Texte, die ihnen in besonderen Schulen beigebracht wurden. Eines Tages erkannten die Menschen aber, dass sie alle Teil einer gemeinsamen großen Aufführung waren. Und auch das sie nicht sterben, sondern nur von Leben zu Leben die Rollen wechseln. Von diesem Tag an begegneten die Menschen sich nicht mehr als Fremde, sondern als Brüder und Schwestern einer Menschheitsfamilie.

Der Student führt jetzt die Gruppe mit einer leichte Handbewegung weiter in einen weiteren Raum. Solvey folgt neben dem Studenten der Gruppe.

Der Student : (Zu Solvey) Pass gut auf was jetzt geschieht.

Der Student ist plötzlich verschwunden. Alle aus der Gruppe scheinen sich zu fragen wo er geblieben ist. Dann sehen sie, dass in dem Raum, in den sie geführt wurden, lauter kleine Altäre stehen. Jeder aus der Gruppe wendet sich wie automatisch einem Altar zu und verneigt sich vor einem Altarbild, als da sind Bilder von Politikern, Bilder von Autos, von Südseeinseln, von Geschlechtsteilen, von Heiligendarstellungen, von Geld, von Nahrungsmitteln, von Sportlern, von Schauspielern und Musikern… Ein Altar bleibt frei. Auf ihm steht das Bild eines strahlenden Lichtes. Solvey beobachtet das Ganze und geht mitten durch diesen Raum hindurch, ohne an dem einen, frei gebliebenen Altar, stehen zu bleiben, weiter in einen nächsten Raum. Hier ist nur ein einziger riesiger Altar, auf dem das Foto von ihr steht, das vorhin die gesamte Gruppe betrachtete. Auch durch diesen Raum geht sie einfach mitten hindurch weiter in einen nächsten. Während all dies geschieht - bis zum Ende der Szene - kommt Obo langsam aus dem Hintergrund hervor.

Obo : Alle waren sie verwirrt über dieses Opfer. Sie hatten etwas erwartet, was sie heilen würde. Sie hatten insgeheim auf das große Orakel der neuen Generation spekuliert. Etwas, dass sie aus den unendlichen Verwirrungen ihrer Zeit befreien könne. Etwas, das den durcheinander geratenen Rhythmus, in dem sie alle gefangen waren, aufzulösen vermochte.Sie hatten gehofft ein junger Mensch könne mit seinen unverdorbenen Augen Dinge sehen, die die überschaut hatten. Doch alle spürten auch, dass die Skulptur, die sie eines Tages vor dem Schrein entdeckten, nur von ihr stammen konnte. Und manche fühlten sich provoziert von dieser Skulptur. Sie fanden sie nicht den Herausforderungen der Zeit gemäß. Schön war sie für andere. Aber auf eine Art schön, die Unwillen gleichermaßen wie Zuversicht hervorrief. Sie war so neu, dass viele nicht gleich was mit ihr anzufangen wussten. Sie provozierte, weil sie eine Idee der Möglichkeiten vermittelte, die in ihnen noch schlummerten. Sie wussten es, ohne es schon zu wissen. Sie wünschten zu wissen, was dies für Gefühle waren, auf die diese Skulptur sie in sich aufmerksam machte. Gefühle, die davon sprachen wer sie als Menschen waren innerhalb einer Gemeinschaft von Menschen. Viele standen auch auf, begannen durch die Strassen zu laufen und riefen sie bräuchten nicht so eine symbolische Skulptur, die ja wenn dann auch nur ein Witz, eine spaßig gemeinte Imitation seien könne. Andere waren sich sicher durch die Anwesenheit dieser Skulptur begriffen zu haben, dass sie alle etwas teilen und gemeinsam die Verantwortung haben für die gerechte Aufteilung unter sich. Alle ausnahmslos hatten die selben Erwartungen gehabt was die Skulptur angeht. Alle hatten sie insgeheim ein Wundermittel der Heilung erhofft. Waren sie nun auch bereit es anzunehmen wo es so einfach, so kindisch zu seinen schien? Wo sie sich fragen mussten, dass wenn es wirklich so einfach sei, wieso sie dann nicht schon viel früher von alleine darauf gekommen seien. Aber was stellte diese Skulptur eigentlich dar? Ein Geheimnis, so tief, dass es mit der Zeit vermochte sie alle zu verwandeln. Diese Skulptur hatte ihnen ein für alle Male aufgezeigt, wieso die kulturellen Unterschiede zwischen den Menschen nur Oberfläche sind. In verwirrenden Sphären stecken bleibt, wenn man sich selbst oder seine Nation vor das Gemeinwohl aller Wesen stellt.

In diesen Raum, in den Solvey jetzt getreten ist, steht gar nichts herum. Sie verbeugt sich und geht dann durch die einzelnen Räume zurück, bis sie zu dem Raum mit den vielen kleinen Altären kommt. Doch das, was sie vorhin hier noch plastisch vor sich gesehen hat, existiert jetzt nur noch als Werbefotos an den Wänden, als Filmbilder oder Videoaufnahmen auf Monitoren an den Wänden. Alles sieht so aus wie eine Installation in einem Museum für zeitgenössische Kunst. Sie geht noch ein Raum weiter zurück und tritt durch das offen stehende Fenster, vor dem Misty vorhin stand, hinaus auf die Strasse. Es setzt

wieder ein Teil aus der dritten Liturgie da la présence divine (Dieu présent en toutes choses) von Messiaen ein.

Solvey kommt, von der Musik wie getragen, zu der Bank auf der in der ersten Szene Melanie und Karl saßen. Hier sitzt nun Reine. Sie setzt sich neben ihn. Beide betrachten den Raum um sich…


































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